- utopische Literatur
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Bezeichnung für philosophische und dichterische Werke, in denen mit den Mitteln der Literatur eine Utopie entwickelt wird. Von Sciencefiction, Fantasy und fantastische Literatur unterscheidet sich die utopische Literatur durch ihr umfassenderes gesellschaftspolitisches Anliegen, dem technischen beziehungsweise fantastischen Elemente eher untergeordnet werden. In der literarischen Praxis sind die Übergänge zwischen diesen Formen jedoch fließend. Die dichterische Gestaltung einer Utopie ist grundsätzlich gattungsmäßig nicht begrenzt. Traditionell bevorzugte Gattung ist jedoch der utopische Roman, wozu neben den Staatsromanen auch die romanhaften Typen der Fürstenspiegel gerechnet werden müssen. Sie greifen stofflich teilweise auf Platons Entwurf eines Idealstaates im Dialog »Politeia« zurück, richten sich häufig satirisch gegen bestehende Staatsformen und sind nach dem Muster der begriffsbildenden Schilderung der Insel »Utopia« durch T. More (»De optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia«, 1516) oft in der Form einer Reisebeschreibung gestaltet, durch die insbesondere dem häufig anzutreffenen Element des Exotischen Rechnung getragen wird. Dieses verbindet sich dann seit der Aufklärung (v. a. unter dem Einfluss von J.-J. Rousseau und D. Diderot) meist auch mit dem Aspekt der Zivilisationskritik. - Reich an utopischen Reiseschilderungen ist auch F. Rabelais' Romanzyklus um Gargantua und Pantagruel; seine humanistischen Überzeugungen gipfeln in der Utopie der Abtei Thélème. T. Campanellas »La città del sole« (1602), die dem Jesuitenstaat in Paraguay den Weg bereitete, schließt sich an More auch in dem Ideal des »Kommunismus« an, während J. V. Andreäs »Rei publicae christianopolitanae descriptio« (1619) von dem Gedanken der Nachfolge Christi bestimmt ist und einen christlichen Idealstaat zu entwerfen sucht. Für F. Bacon war Naturbeherrschung und -nutzbarmachung zur Vervollkommnung der Kultur Zweck der Naturerkenntnis. Sein »Nova Atlantis« (herausgegeben 1627) ist die Darstellung eines auf diesem Weg entworfenen technisch perfekten Zukunftsstaates. Während J. G. Schnabels von der Empfindsamkeit geprägte »Wunderliche Fata einiger Seefahrer. ..« (4 Bände, 1731-43, neu herausgegeben 1828 unter dem Titel »Die Insel Felsenburg. ..«) die ideale Gemeinschaft von der sittlichen und sozialen Haltung ihrer Mitglieder erhofft, lässt B. de Mandevilles »Fable of the bees. ..« (1714) den Idealstaat an seiner Vollkommenheit scheitern. Satirisch richtet sich auch J. Swifts »Gulliver's travels« (4 Teile, 1726) gegen den Optimismus mancher Utopien. Weitere Utopien des 17. und 18. Jahrhunderts schufen u. a. Cyrano de Bergerac (»Histoire comique des estats et empires de la lune«, herausgegeben 1657; »Histoire comique des estats et empires du soleil«, herausgegeben 1662), James Harrington (* 1611, ✝ 1677; »The commonwealth of Oceana«, 1656), Gabriel de Foigny (* 1630, ✝ 1692; »La Terre Australe connue«, 1676), Denis Vairasse (* um 1630, ✝ nach 1683; »The history of the Sevarites or Sevarimbi«, 1675), L. von Holberg (»Nicolai Klimii iter subterraneum«, 1741), Morelly (»Naufrage des isles flottantes, ou Basiliade du célèbre Pilpay«, 1753), L. S. de Mercier (»L'an deux mille quatre cent quarante. ..«, 1771), J. J. W. Heinse (»Ardinghello und die glückseeligen Inseln«, 2 Bände, 1787) und F. L.Graf zu Stolberg-Stolberg (»Die Insel«, 1788). - Besonders seit der Mitte des 19. Jahrhunderts glaubte man unter dem Eindruck des naturwissenschaftlichen und sozialen Fortschritts zunächst überwiegend an die Möglichkeit einer Bewältigung gesellschaftlicher Probleme durch Technisierung und einer zunehmenden Perfektionierung neuer sozialer Organisations-, Wirtschafts- und Lebensformen, so z. B. der Frühsozialist Étienne Cabet (* 1788, ✝ 1856; »Voyage en Icarie«, 1840), R. Owen (»The social system«, 1820; »The book of the new moral world«, 7 Teile, 1836-44), E. Bellamy (»Looking backward, 2000-1887«, 1888; »Equality«, 1897), Bertha von Suttner (»Das Maschinenalter«, 1889), Theodor Hertzka (* 1845, ✝ 1924; »Freiland«, 1890; »Entrückt in die Zukunft«, 1895), H. G. Wells (»When the sleeper wakes«, 1899; »The food of the gods and how it came to earth«, 1904; »A modern Utopia«, 1904). Andere Utopien des 19. Jahrhunderts, wie z. B. Werke J. Vernes, markieren bereits den Übergang zur Sciencefiction. - Hiergegen zeichnete sich schon Ende des 19. Jahrhunderts, z. B. bei E. Bulwer-Lytton (»The coming race«, 1871), S. Butler (»Erewhon«, 1872) und W. Morris (»News from nowhere«, 1890) und Anfang des 20. Jahrhunderts (J. London, »The iron heel«, 1907), v. a. aber nach dem Ersten Weltkrieg eine bis heute anhaltende Tendenz zur Antiutopie (negative Utopie, Gegenutopie, schwarze Utopie) ab als Reaktion auf ungehemmten Fortschrittsglauben, optomistische Verklärung oder die tatsächlichen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse negierende Zukunftsprojektionen. Warnungen beziehungsweise Furcht vor den Gefahren massengesellschaftlicher Entindividualisierung, unkontrollierbarer Technologien und allgegenwärtiger diktatorischer Herrschaftssysteme spiegeln sich in den Werken u. a. von K. Čapek (»R. U. R.«, 1920; »Válka s mloky«, 1936), J. I. Samjatin (»My«, 1924), A. L. Huxley (»Brave new world«, 1932; »Ape and essence«, 1948) und G. Orwell, auf dessen »1984« (1949) zahlreiche der über 200 Werke dieses Genres, die allein in Großbritannien in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen, zum Teil erheblichen Einfluss hatten: u. a. Olaf Stapledon (* 1886, ✝ 1950; »Darkness and light«, 1942), A. Noyes (»The last man«, 1940; »The edge of the abyss«, 1944), C. S. Lewis (»That hideous strenght«, 1945), E. Wallace (»1925«, 1915; »1938: A preview of next year's news«, 1937). In den Kontext solcher utopischer Literatur gehören auch die Werke von Karin Maria Boye (»Kallocain«, 1940), Erik Maria von Kühnelt-Leddihn (* 1909; »Der gefallene Engel oder Moskau 1997«, 1961), E. Jünger (»Heliopolis«, 1949), Constantin Virgil Gheorghiu (* 1916, ✝ 1992; »La vingt-cinquième heure«, aus dem Manuskript übersetzt, 1949), R. D. Bradbury (»Fahrenheit 451«, 1953). Letztlich ebenfalls pessimistisch endet H. Hesses Überhöhung wissenschaftlicher Kultur ins Religiös-Kultische in dem gelehrten Ordensstaat seines »Glasperlenspiels« (2 Bände, 1943). - Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt sich ein eher heterogenes Bild: Während die auf eine positive Perspektive hin ausgerichtete (»postmaterielle«) Utopie »Walden two« (1948) von B. F. Skinner in den USA sehr erfolgreich war und v. a. die Diskussion um den Begriff des Social Engineering mitbestimmte, standen in der deutschen utopischen Literatur nach 1945 v. a. die Angst vor einer nuklearen Katastrophe und die Auffassung von einer Ausweglosigkeit der zivilisatorischen Entwicklung im Vordergrund, so bei F. Werfel (»Stern der Ungeborenen«, herausgegeben 1946), Arno Schmidt (»Schwarze Spiegel«, 1951; »Kaff auch Mare crisium«, 1960), J. Rehn (»Die Kinder des Saturn«, 1959) und C. Amery (»Der Untergang der Stadt Passau«, 1975). Daneben erfolgt, nach Vorläufern im 19. Jahrhundert (E. A. Poe, »Eldorado«, 1849) und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (J. R. Becher, »Klänge aus Utopia«, 1920; W. Hasenclever, »Der politische Dichter«, 1919; C. Morgenstern, »Auf dem Fliegenplaneten«, herausgegeben 1919), in neuerer Zeit eine verstärkte gattungsmäßige Ausweitung, so z. B. für das Drama durch E. Canetti (»Die Befristeten«, 1964), F. Dürrenmatt (»Porträt eines Planeten«, 1971) und G. Kunert (»Futuronauten«, 1981), für das Hörspiel u. a. durch Dürrenmatt (»Das Unternehmen der Wega«, 1958), Günter Klonz (* 1917; »Auf höheren Befehl. Ein deutsches Märchen«, 1982), für die Lyrik u. a. durch P. P. Althaus (»In der Traumstadt«, 1951), H. M. Enzensberger (»utopia«, 1957), Johannes Schenk (* 1941; »Die Genossin Utopie«, 1973) und Kunert (»Unterwegs nach Utopia«, 1977). - Daneben besitzt das Element des Utopischen auch in den jüngeren Werken der übrigen europäischen Literaturen sowie in den USA einen hohen Stellenwert. Exemplarische Werke schufen u. a. in den Niederlanden Stefan Denaerde (das ist Adrianus Beers, * 1924; »Buitenaardse beschaving«, 1969), in Italien Paolo Mantegazza (* 1831, ✝ 1910; »L'anno 3000«, 1897) und C. Malaparte (»Storia di domani«, 1949) und in Spanien P. Salinas (»La bomba increíble«, 1950). Seit den 1970er-Jahren entstehen auch Utopien mit betont ökologischen und feministischen Gesellschaftsentwürfen. Ökologisch orientiert sind u. a. Ernest Callenbachs (* 1929) »Ecotopia« (1975), Ursula Le Guins' »The dispossessed« (1974) und Samuel R. Delanys (* 1942) »Triton« (1976); die unabwendbare ökologische Katastrophe schildert Edward Abbey in »Good news« (1980). In den feministischen Visionen alternativer egalitärer Gesellschaften sind oft soziale und ökologische Themen verschränkt, so z. B. in den Werken von Joanna Russ (»The female man«, 1975), Dorothy Bryant (* 1940; »The kin of Ata are waiting for you«, 1976), Marge Piercy (»Woman on the edge of time«, 1976), G. Brantenberg (»Egalias døttre«, 1977), Sally Miller Gearhart (»The wanderground«, 1978), Doris Lessing (»The marriages between zones three, four and five«, 1980), Ulla Hagenau (* 1938; »Schöne verkehrte Welt oder die Zeitmaschine meiner Urgroßmutter«, 1980) und Maria Erlenberger (»Singende Erde«, 1981). Margaret Atwood entwirft in »The handmaid's tale« (1985) die Schreckensvision einer fundamentalistisch-alttestamentarischer Kriegergesellschaft. Gemeinsam ist allen diesen neueren (Anti-)Utopien ein stark gesellschaftskritischer und anthropologischer Ansatz, der sein Engagement v. a. aus der Erkenntnis der weltweiten Gefährdung durch Gewalt und Umweltzerstörung gewinnt.W. Biesterfeld: Die literar. Utopie (21982);Die Utopie in der angloamerikan. Lit., hg. v. H. Heuermann u. a. (1984);N. B. Albinski: Woman's utopias in British and American fiction (London 1988);K. Otten: Der engl. Roman. Entwürfe der Gegenwart: Ideenroman u. Utopie (1990);
Universal-Lexikon. 2012.